Der wahre Herr der Fliegen: eine echte Geschichte

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Der wahre Herr der Fliegen: In seinem mehrfach prämierten Schriftstück “Herr der Fliegen” zertrümmert William Golding den Mythos des unschuldigen Kindes und konterkariert diesen mit einem überzeichnet babarischem Südsee Idyll, in dem die kleinen Teufel übereinander herfallen und das einstige Paradies in Schutt und Asche legen.

Die Literatur der zweiten Hälfte des 20 Jhdts. war durch die Bank weg unverstellbar grausam, der Mythos der bösen menschlichen Natur war den privaten Traumata der Schriftsteller während des zweiten Weltkriegs entwachsen. Dass der selbsterklärte Welt – und Menschenzweifler Golding seine Kriegserlebnisse in die Boshaftigkeit der menschlichen Natur und somit auch in seinen Roman projiziert, daraus macht der Anti-Rosseau kein Geheimnis. Denn Golding sagt über sich selbst, dass er ohne die Vergangenheitsverarbeitung die durch den Herr der Fliegen stattgefunden hat, für immer zum seelischen Krüppel geworden wäre.

Das Menschenbild der 50ger Jahre ist nicht erst seit gestern widerlegt, aber wie hätten sich Kinder wirklich verhalten, wenn sie auf einer einsamen Insel auf sich allein gestellt gewesen wären, fernab von Goldings Utopia (oder auch gar nicht so weit von der Realität entfernten Vorstellung) ?

Rutger Bregman findet Peter Warner

Der holländische Autor Rutger Bregman hat sich diese Frage zur Mission gemacht und das Web nach Vorfällen durchforstet, die einem Szenario a la Herr der Fliegen gleichkommen – und ist nach langer Suche und mit dem Glück des Tüchtigen auch tatsächlich fündig geworden: Der Australier Peter Warner erzählt ihm eine schier unglaubliche Geschichte.

Auf einer Insel südlich von Tonga gestrandet – Ata

Das Ganze geschah im Winter 1966, als Warner mit seiner Fischflotte auf dem Rückweg nach Hause südlich von Tonga segelte. Und so trug es sich zu, dass der in Tasmanien ansässige Kapitän auch an der winzigen Südseeinsel Ata vorbeikam, die seid 1863 als unbewohnt und unter Seefahrern als verflucht galt. Hier wurden in eben diesem Jahr 1863 die Eingeborenen von Sklavenschiffen deportiert, seitdem wurde die Insel nie wieder besiedelt. Peter wurde stutzig als ihm mit dem Fernglas auf den grün bewachsenen Klippen verbrannte Stellen auffielen. Selbstentzündliche Feuer sind in den immer feuchten Tropen überaus unüblich. Als er die Feuerstellen genauer unter die Lupe nehmen wollte, erblickte er einen Jungen, nackt, langes zotteliges Haar; der Junge sprang sofort ins Wasser und begann wie wild mit den Armen zu fuchteln, weitere Jugendliche folgten. Sobald er Warners Boot erreichte, sagte er in perfektem Englisch, dass sein Name Stephen sei und er und 5 weitere Jungs hier vor 15 Monaten gestrandet sind.

Die Verschollenen werden gerettet

Sobald die Jungs an Board waren, behaupteten sie, dass sie Schüler des Nuku´alofa Internats seien. Für die Unwissenden unter euch: Nuku`alofa ist die Hauptstadt Tongas. Warum sie aus der Schule geflohen sind: natürlich wegen dem schlechtem Essen! Also stahlen die sechs Revoluzzer das Boot eines Fischers (dazu später noch mehr) und starteten einen Segelturn, von dem sie fast einundeinhalb Jahre nicht mehr zurückkehren sollten. Um diese unglaubliche Geschichte bestätigen zu lassen funkte Peter Warner also nach Nuku`alofa, die ihn erstmal 30 Minuten auf Standby schickten. Dann meldete sich der Funker mit tränenerstickter Stimme zurück: Du hast sie gefunden! Wir haben sie bereits für tot erklärt und beerdigt! Falls sie es wirklich sind, dann ist es ein Wunder!

Du hast sie gefunden! Wir haben sie bereits für tot erklärt und beerdigt! Falls sie es wirklich sind, dann ist es ein Wunder!

Rutger Bregman rekonstruiert die Geschehnisse auf Ata

Gemeinsam mit Peter Warner und Mano (einer der Jungs) rekonstruiert Rutger Bregman also die Erlebnisse der Verschollenen so detailliert wie möglich. Die Odyssee der Schüler begann im Juni 1965, alles begann mit einem kindlich naiven Fluchtplan nach Fijii oder aber auch Neuseeland. Die Protagonisten: Sione, Kolo, David, Stephen, Luke und Mano, alle zwischen 13-16 Jahren alt und Schüler des katholischen Internats in Nuku`alofa. Der Katalysator des Abenteuers war so einfach wie banal: Langeweile und schlechtes Essen. Ihnen stand vermeintlich nur eine Sache im Weg: keiner der Freizeit-Abenteurer besaß ein Boot. Also beschlossen die Ausreißer sich ein Boot von einem Fischer, den sie allesamt  nicht sonderlich mochten, zu “leihen”. Leider bedarf so eine Ozean Überquerung weitaus mehr als nur ein brennendes Herz und eine ungesunde Portion Abenteuermut. Und so starteten die Weltumsegler ihre Odyssee mit lediglich ein paar Kokosnüssen und Bananen im Gepäck; eine Karte oder Kompass? Das kam den Daredevils leider nicht nicht in den Sinn.

Der wahre Herr der Fliegen – auf hoher See

Keiner nahm Notiz von der Jugendbande, die an einem lauen Sommerabend das Schiff klauten und in See stachen. Leider begangen die Jungs direkt am Anfang ihrer Reise einen fundamentalen Fehler, der gefolgt von einem weiteren Fehler zur unausweichlichen Katastrophe führte: Sie schliefen ein! Als sie Nachts erwachten rüttelte bereits ein gewaltiger Orkan am Boot; und jetzt folgte der zweite kapitale Fehler: die unerfahrenen Seemänner hissten die Segel, die der Sturm in Sekundenbruchteilen in alle Winde zerstreute, auch die Ruder gingen über Board. Nun war es den Schülern unmöglich geworden, Einfluss auf die Richtung ihrer Route zu nehmen und so wurden sie 8 Tage lang von den Meereströmungen getragen. Ein Großteil ihres Proviant war über Board gegangen, Wasser hatte sie auch keines mehr. In einer zerbrochenen Kokosnuss sammelten sie Regenwasser, von welchem jeder der Jungs pro Tag zwei Schlücke nahm.

Land in Sicht

Am achten Tag ihrer Irrfahrt konnten sie ihren Augen nicht trauen: Land in Sicht- vor ihnen lag die unbewohnte Insel Ata, die aber alles andere als ein Klischee – Südsee Idyll darstellte: steinige Strände, hoch-aufragende Klippen, heute gilt die Insel als “un-besiedelbar”.

Der wahre Herr der Fliegen
Nicht das klassische Südsee Idyll. Küste in Ata. Pic: Channel 7

Warner beschrieb, was er auf Ata vorfand, als er die Jungs auf der Insel entdeckte; alles sehr fern von der Vorstellung William Goldings: die Schüler hatten sich einen kleinen Gemüsegarten angelegt, nutzten einen hohlen Baumstamm als Regenauffangbecken, sie hatten sich sogar eine Art Fitnessstudio gebaut mit improvisierten Geräten. Während die Jungs aus Herr der Fliegen sich niedermetzelten wegen des kostbaren Feuers, hielten die Ata-Boys dieses einfach 24/7 am laufen.

So nah und doch so fern: nur ca. 20 Kilometer nördlich von ihrer Heimatinsel Tonga befindet sich Ata. Ohne Boot und einem wilden Ozean dazwischen dennoch eine uneinnehmbare Festung.

Sie arbeiteten an den verschiedenen Projekten in zweier Teams, gewechselt wurde zwischen Feuerwache, Gartenarbeit und Küche. Kolo baute aus Kokosnüssen, Treibholz und Stahlseilen des gekenterten Segelboots sogar eine kleine Gitarre. Sie unternahmen  auch einen Versuch, die Insel hinter sich zu lassen und auf einem selbstgebauten Floss loszusegeln, der große Wellengang zerstörte das Floss aber im Handumdrehen.

Improvisierte Gitarre
Der wahre Herr der Fliegen: die Gitarre der Hoffnung.

Stephen brach sich auf einem Ausflug zu den Klippen das Bein, welches die Burschen behelfsmäßig mit Stöcken und Blättern schienten. Stephens Aufgaben übernahmen seine Kameraden in der Zeit seines Krankenstands einfach mit. Ein Arzt sollte sich nach Rettung der Jungs über die exzellente Heilung des Beines und den guten körperlichen Zustand der Jungs wundern.

Wie überlebten sie ? Ernährung auf Ata

Vornehmlich aßen sie Fisch, Kokosnüsse und Vögel, deren Blut sie auch zeitweise tranken. Als sie eines Tages in den Vulkankrater der Insel vordrangen, fanden sie eine Jahrhundert alte Siedlung, wo immer noch Bananen wuchsen und sich die einst domestizierten Hühner zu Hundertschaften vermehrt hatten. Sie nahmen einige Hühner mit in ihr Camp und legten dort einen Hühnerstall an.

Der wahre Herr der Fliegen: Ein unerwarteter Empfang

Die Jungs sollten am 11.September 1966 das erste mal seid 15 Monaten wieder in Tonga einlaufen. Den Empfang allerdings hatten sich die Ausreißer wohl anders vorgestellt. Anstatt eines Komitees wurden sie von der Polizei empfangen, die sie wegen des geklauten Bootes kurzerhand ins Gefängnis warfen. Das Gesetz vergisst nicht.

Doch Peter Warner hatte eine Idee: über seinen Vater hatte er Kontakte in die Filmindustrie und unter der Prämisse, dass die Überlebenskünstler bei dem geplanten Filmprojekt über ihr Abenteuer mitwirken, kam Warner mit 150$ für den geschädigten Fischer auf und kaufte die Jungs frei.

Als die verloren geglaubten dann endlich zu ihren Familien zurückkehrten, gab es kein Halten mehr. Mehr als 900 Leute empfingen die von den Toten Auferstandenen, Peter Warner wurde zum Nationalheld erklärt. Sogar der König soll ihn damals empfangen haben. Später hat Warner alle sechs Geretteten zu Crew Mitgliedern auf seinem Fischerboot gemacht, damit sie, wie er zu Protokoll gab, endlich die Welt sehen können. Der Name des Bootes: ATA!

Der wahre Herr der Fliegen
Peter Warner und die geretteten Jungs formen die neue Crew der Ata! Pic: Channel 7

Es ist merkwürdig, dass diese Geschichte beinahe in Vergessenheit geraten wäre, während der Herr der Fliegen zu einem der bekanntesten Bücher des 20.Jahrhunderts geworden ist. Der echte Herr der Fliegen ist eine Geschichte über Freundschaft, Loyalität und Zusammenhalt, die schönere Version einer sich im Ausnahmezustand befindlichen Jugendgruppe. Ob die Geschichte, wie sie auf Ata geschehen ist, repräsentativ für Menschen/Kinder in Extremsituationen ist? Wohl kaum! Dennoch widerlegt der echte Herr der Fliegen den Menschen-Skeptiker Golding eindrucksvoll: wir sind tatsächlich nicht alle von Natur aus böse!

Doku – Der wahre Herr der Fliegen

Die damals von dem australischen Sender Channel 7 gedrehte Doku wurde von Rutger Bregman wiederentdeckt, überarbeitet und gibt es hier zu sehen.

 

 

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